Erst der Prozess, dann das Tool
Eine Website oder ein neues Tool löst keine Prozessprobleme. Wer einen schlechten Ablauf digitalisiert, bekommt einen schlechten digitalen Ablauf – nur schneller, teurer und hartnäckiger. Echte Entlastung entsteht, wenn Prozesse zuerst vereinfacht und standardisiert werden und danach das passende Werkzeug folgt.
Warum „online“ oft nur schnelleres Papier ist
- Komplexität konserviert: Digitale Formulare ohne klaren Prozess erzeugen denselben Rückfragen-Loop – nur mit mehr Klicks.
- Fehler werden skaliert: Unklare Zuständigkeiten, fehlende Freigaben und doppelte Dokumentation werden im System dauerhaft „eingebrannt“.
- Kosten wandern: Zeitersparnis an einer Stelle führt zu Mehraufwand an anderer – weil der Gesamtfluss fehlt. Merksatz: Nicht „Welches Tool passt?“, sondern „Welcher Prozess ist richtig – und welches Tool passt zu diesem Prozess?“
Prozess vor Tool: die drei Ebenen
- Ergebnis & Ziel: Was soll am Ende zuverlässig vorliegen (Zeit, Qualität, Compliance, Patientenerlebnis)?
- Ablauf & Rollen: Eingang → Bearbeitung → Dokumentation → Rückmeldung; mit klaren Zuständigkeiten (RACI) und Übergabepunkten.
- Daten & Entscheidungen: Welche Daten werden wo erfasst, wer gibt frei, wo landen sie final (Praxisverwaltungssystem/PVS)?
Vorgehen in 7 Schritten – schlank, messbar, mit Zeitrahmen
- Ziel festlegen (15–30 min): z. B. „Rückmeldezeit Befunde ≤ 24 h“ oder „0 Copy-Paste im Standardfall“.
- Ist-Prozess erfassen (30–45 min): maximal 6–8 Schritte, Swimlane nach Rolle (MFA, Ärztin/Arzt, PM, IT).
- Verschwendung markieren (20–30 min): Warten, Suchen, Doppel-Doku, Rückfragen, Tool-Hopping.
- Soll-Prozess skizzieren (30–45 min): ein klarer Pfad mit Übergaben, SLAs, Freigabepunkten.
- Standards definieren (30–45 min): Textbausteine, Checklisten, Minimalfelder – auf einer Seite.
- Messpunkte festlegen (15–30 min): 3 KPIs, z. B. Rückmeldezeit, Erstlösungsquote, „Dokumente direkt in der Akte“.
- Erst dann Tool auswählen (45–60 min Demo): Bewertung am Soll-Prozess, nicht am Feature-Katalog.
Zwei Mini-Fallbeispiele aus der Kinderarztpraxis (prozesszentriert)
A) Rezeptanforderung
Vorher: Telefon/E-Mail, verstreute Doku → 3 Medienbrüche, unklare Fristen.
Nachher: 1 Standard-Pfad (Kategorie „Rezept/Attest“), 1 Textbaustein (Erstantwort mit Frist), 1 Freigabe-Step Ärztin/Arzt, 1 Ablageort (PVS-Akte).
Effekt: Rückmeldezeit 48 h → 24–36 h, Copy-Paste → 0.
B) Überweisung/Attest
Vorher: Anfrage per E-Mail, Rückfragen telefonisch, Scan im Laufwerk → 2–3 Medienbrüche, Rückmeldezeit ~48 h.
Nachher: Standard-Pfad in der Online-Rezeption, Pflichtfelder + Patientenkennung, Freigabe im PVS, Rückmeldung per Baustein → 0 Medienbrüche, Rückmeldezeit ≤ 24 h.
Patientenerlebnis: schnellere, verlässliche Rückmeldung, weniger Nachfragen.
Toolauswahl nach dem Prozess: Kriterien mit Gewichtung
Bewerte Kandidaten gegen deinen Soll-Prozess (0–5 Punkte; Gewichtung in Klammern):
- PVS-Integration / strukturierte Übergabe (×3)
- Rollen & Rechte / 2FA / Protokollierung (×2)
- Textbausteine/SLAs im Workflow abbildbar (×2)
- Export/Archiv & Datenhoheit (×2)
- Onboarding-Aufwand (< 2 h je Rolle) (×1)
- Support/SLA & Wartung (×1)
Beispiel-Score (eine Zeile):
Kandidat A: Integration 5×3=15, Rechte 4×2=8, SLAs 4×2=8, Export 5×2=10, Onboarding 4×1=4, Support 3×1=3 → Summe 48/55.
Entscheidungsregel: Kein Tool ohne ≥ 70 % Zielerreichung am Soll-Prozess. Keine Individualisierung, bevor der Standard funktioniert.
Heute anwenden: 4 Klick-Schritte im Alltag (MFA)
- Kategorie wählen (Online-Rezeption): Anliegen korrekt zuordnen.
- Textbaustein einsetzen: passenden Baustein wählen, Frist nennen.
- Frist setzen & markieren: SLA im Tool/PVS setzen, offene Punkte taggen.
- Akte prüfen & ablegen: Dokumente direkt in der Patientenakte sichern.
Minimal-Feldliste (Beispiel): Name, Geburtsdatum, Versichertennummer, Anliegen-Kategorie, Arzt/Ärztin-Freigabe (Ja/Nein + Zeit), Frist, Rückkanal.
Beispiel-Textbaustein (Erstantwort, Befund ≤ 24 h):
„Vielen Dank für Ihre Nachricht. Wir ordnen den Befund heute der Patientenakte zu und melden uns spätestens bis morgen 14 Uhr mit der Rückmeldung.“
Governance & Rhythmus – inkl. Teamkommunikation
- Täglich: 10-Min-Kurzcheck je Schicht (offene Übergaben, Fristen).
- Monatlich: 30-Min-Prozessreview (3 KPIs sichten, 1 Engpass lösen).
- Vierteljährlich: Tool-/Schnittstellen-Review gegen den Soll-Prozess.
- Team-Kommunikation: Kick-off (15 min) zum Start, Testwoche, Retro (15 min) am Ende – Erkenntnisse in die Standards übernehmen.
- Vertrags-Basics: AVV, SLA, Exportfähigkeit – dokumentiert.
Kurz-ROI (prozess-only)
Rechne bewusst am Prozess, nicht am Tool: Wenn ein Standardpfad pro Tag 10 Minuten spart, entstehen über das Quartal messbare Effekte – ohne Systemwechsel. Das Tool skaliert erst danach den bereits guten Ablauf.
Zusammenfassung für Eilige
- „Online“ ist kein Ziel – Durchgängigkeit ist es.
- Prozess zuerst, Tool folgt dem Prozess.
- Entscheide am Soll-Prozess, pilotiere kurz, miss drei Kennzahlen.

